Der Tag, an dem ich der Kinderarmut in die Augen geschaut habe

Ich bin nun schon eine Weile in San Cristobal de las Casas in Chiapas, Mexiko. Die Stadt auf 2100 Metern Höhe hat ungefähr 220 000 Einwohner - eine bunte Mischung verschiedener indigener Ethnien und Traveller aus der ganzen Welt, die sich hier in den Bergen Mexikos niedergelassen haben. In der Fußgängerzone, die sauber und herausgeputzt ist, mischen sich unter die Touristen viele Maya Frauen in ihrer Tracht, die ihre Textilien auf der Straße verkaufen.


Im Vergleich zu anderen großen Städten in Mexiko - wie zum Beispiel Oaxaca oder Mexico Stadt - fällt hier aber auch auf, dass viele Kinder durch die Straßen ziehen und betteln - und das mit teilweise sehr kreativen Geschichten.

Kürzlich war ich abends in einer Bar in der Fußgängerzone und bin alleine an meinem Tisch im Freien gesessen; dick eingepackt mit allen Klamotten, die ich besitze und mit einem Rum, der mich aufwärmen soll. Abends wird es hier empfindlich kalt - trotzdem spielt sich das Leben draußen ab, da es in den Steinhäusern ohne Heizung meistens noch kälter ist.

Während ich da sitze und die Menschen um mich herum beobachte, spricht mich ein kleiner Junge an. Er stellt sich als "Giovanni" vor und behauptet, dass er 14 Jahre alt ist. Nachdem ich ihn ausgelacht habe und ihm gesagt habe, dass ich dann ja wohl höchstens 18 bin, wenn er 14 Jahre alt ist, haben wir uns darauf geeinigt, dass 10 Jahre eine gute Altersangabe ist, mit der wir beide leben können. Er fragt, ob er sich setzten dürfe und da ich grad in der Laune zum Tratschen war, habe ich zugestimmt - obwohl mir klar war, was nun kommen würde.

"Giovanni" bat mich, ihm zu zu hören und ihn nicht zu unterbrechen... der kleine Bub versucht krampfhaft wie ein Erwachsener zu wirken. Es sei nämlich so, dass sein Bruder gerade gestorben ist und seine Eltern beide krank sind. Deshalb muss er sich nun um die Bestattung seines einzigen Bruders kümmern - seine Eltern haben ihn geschickt einen Sarg zu kaufen, aber er hat zu wenig Geld... insgesamt braucht er 1000 Pesos, nur 200 Pesos fehlen ihm noch, aber auch schon 100 Pesos würdem ihm sehr viel nützen  - und nur ich kann ihm helfen, denn er kann doch nicht ohne einen Sarg für seinen Bruder zu seinen kranken Eltern zurück kehren... dazu hat er sich an den besonders emotionalen Momenten mit ganz viel Mühe ein paar Tränen raus gedrückt. Zwischendurch ist er immer wieder ins Stocken gekommen und musste Sätze neu anfangen, damit seine Geschichte irgendwie rund klingt. Offensichtlich wimmeln ihn die meisten Touristen schon ab, bevor er seine Story erzählen kann und "Giovanni" muss zwischendurch immer wieder nach denken, was er vorher auswendig gelernt hat. Er versucht mir sehr eindringlich klar zu machen, dass nur alleine mein Geld ihm helfen kann - falls ich ihm nicht glauben würde, könnte ich ihm ja meine Telefonnummer geben und sein Vater würde mir den Sachverhalt am Telefon bestätigen...

Der Kleine hat sich mit seinem Auftritt echt Mühe gegeben - und war dann richtig enttäuscht, als ich ihm erklärt habe, dass er weder mein Geld noch meine Telefonnummer bekommt. Trotzdem blieb er sitzen - und dann war er zum ersten Mal ehrlich zu mir. "Mir tun die Füße weh - und mir ist kalt!", hat er gesagt. Das wiederum kann ich verstehen und habe ihm angeboten etwas Warmes zu trinken und eine Kleinigkeit zu Essen zu kaufen. Er machte noch einen letzten Versuch mir zu erklären, dass ich ihm mit 200 Pesos doch viel mehr helfen könnte...

... geworden ist es dann eine Tasse Tee und eine Portion Pommes mit Mayo. Ihm wäre ein Mojito lieber gewesen, aber davon wird ihm schließlich nicht warm - das hat er mir tatsächlich auch ohne lange Diskussion geglaubt.

Mir gegenüber saß nun nicht mehr der Giovanni, der versucht mir Märchen auf zu tischen, sondern ein armer, vernachlässigter Junge, der sich viel zu selten wäscht, leicht hyperaktiv ist und zu viel Zeit alleine in den Gassen von San Cristobal verbringt. Während wir gemeinsam auf sein Essen gewartet haben, haben wir miteinander gesprochen. Er versteht nicht, weshalb ich ihm kein Geld gebe - in seiner Logik wäre ihm damit ja am besten geholfen. Er ist zwar selten erfolgreich mit seiner Geschichte, aber er kennt auch kein anderes Leben. Nur mein Geld könnte ihn retten... zumindest heute.

Der Junge erzählt mir davon, dass ihn seine Eltern in die Stadt schicken um zu betteln - mit diesen und seinen (selbstverständlich lebendigen) Geschwistern lebt er 3 Gehstunden von San Cristobal entfernt. Er würde zwar gerne Englisch sprechen können, aber er meint, dass Schule nicht so wichtig ist. Mit gerade einmal 10 Jahren hat er neben dem Betteln in der Fußgängerzone auch einen "echten" Job, weshalb er nicht regelmäßig zur Schule gehen kann. Giovanni sammelt nämlich Müll - dafür braucht er weder Lesen noch Schreiben zu können. Warme Schuhe oder eine Jacke besitzt er nicht, aber angeblich macht ihm die Kälte in den Bergen nichts aus. Während er mir das erzählt, klammert er sich an die heiße Teetasse, damit seine steifen Finger wieder beweglich werden. An einem normalen Tag isst er maximal eine Mahlzeit - meistens Maistortillas mit Bohnen, Gemüse oder Früchte gibt nicht. Er mag es auch mit seinen gleichaltrigen Freunden zu spielen, aber dafür hat er selten Zeit, weil er ja jeden Tag arbeiten muss... und seine Freunde auch. Ich frage ihn nach seinen Träumen und Wünschen - und was er einmal machen möchte. Darauf weiß er keine Antwort, verspricht mir aber, darüber nach zu denken.

Jeder von uns weiß, dass es viele Kinder gibt, deren Tage genau so wie der von Giovanni aussehen - aber wir kommen selten in die Verlegenheit, mit so einem Kind von Angesicht zu Angesicht zu sprechen und ihm dabei in die Augen zu schauen. Ich fühle mich nicht schlecht, weil ich anders aufgewachsen bin und andere Möglichkeiten in meinem Leben habe - ich werde hier nur regelmäßig daran erinnert, dankbar zu sein.

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